Vor einigen Tagen hat mir eine befreundete, ausgezeichnete Eurythmistin, die sowohl vierzehn Jahre auf der Goetheanumbühne und überdies vierzehn Jahre auf der Bühne des holländischen Eurythmiensembles in Den Haag stand, mit grossem Nachdruck mitgeteilt:
» Weisst Du, in all diesen Jahren haben wir kein einziges Mal wirklich zusammengearbeitet. Es gab keinen Austausch über das, was jeder für sich versucht, was jeder für sich erlebt, beobachtet oder denkt ! - Wir haben nichts anderes getan als Musikstücke und Texte augewählt und Woche für Woche neue Programme zusammengestellt und aufgeführt.«
Vor dem Milleniumwechsel erwähnte im Rundbrief der eurythmischen Sektion am Goetheanum ihr damaliger Leiter, dass sich die Eurythmiebewegung in einer Krise befände. Ohne die Datierung zu begründen, nannte er 1989 als ihren Beginn. - Meine 1989 im Verlag Freies Geistesleben erschienene Schrift "Bedingungen eurythmischer Kultur - vom bewegen Denken und der beseelten Gebärde" enthielt mein damaliges Verständnis der Krise. Vom Verlag in einer Auflage von zweitausend Exemplaren hergestellt, war sie bald vergriffen (Restexemplare dürften bei der Engel-Buchhandlung in Stuttgart noch erhältlich sein). Für jüngere Menschen ist es schwierig, sich vorzustellen, dass vor dem Auftreten des Internet und der Mobiltelefone eine solche Sekundärschrift von so vielen Eurythmieinteressierten studiert oder zumindest gekauft wurde (heute dürfte eine Auflage von 200 Ex. bereits mehr sein, als man erwarten kann).
"Bedingungen eurythmischer Kultur" stiess bei dem Verfasser der ersten akademischen Dissertation über Eurythmie, die 1993 einer deutschen Universität vorgelegt wurde, auf verständnisvolle Zustimmung. In seiner Schrift "Die Eurythmische Bühnenkunst Rudolf Steiners" vermisste Thomas Parr im Allgemeinen die "intellektuelle, diskursive Auseinandersetzung mit der eurythmischen Kunst“ und erblickte in meiner kleinen Schrift "eine bemerkenswerte Ausnahme".
Parr hatte bemerkt, dass sie den Versuch unternahm, die einzelnen Erscheinungen eurythmischer Bewegungen (in ihrem zweiten Kapitel etwa den Organismus der musikalischen Intervallgebärden) im Licht der geistigen Gestalt zu erfassen, welche für die Eurythmie ideell existiert, und das eurythmische Üben als einen Erkenntnisweg darzustellen, der zu einem immer individuelleren Erleben jener wesenhaften Grundlage führen kann. Mit schien, die festgestellte Krise der Eurythmie und die eingangs erwähnte Mitteilung jener Eurythmistin mit dem fehlenden Verständnis für einen spezifisch eurythmischen Erkenntnisweg in Verbindung zu stehen.
Rudolf Steiner, der Stifter der eurythmischen Kunst, war ja kein Eurythmist. Wie auch die grossen Geister, die (mit Novalis beginnend) die vorgeburtliche Existenzform der Eurythmie in immer konkreteren Aussagen zu erfassen vermochten keine Tänzer waren. Ich habe ihre erstaunlich konkreten Darstellungen über eine für sie zukünftige Bewegungskunst erstmals im ersten Kapitel meiner Euryhmieschrift zitiert. (Daselbst den Berliner K.F.E.Trahndorff und I.H.Fichte) - Ergänzt wurde jene Entdeckung in meiner Untersuchung zu Novalis und die Anthroposophie im Kapitel Keime eurythmischer Bewegungskunst in Novalis' Poetologie, welches Hardenbergs diesbezügliche Intuitionen behandelt. Eines der Zitate von Novalis:
» Man sucht mit der Poësie, die gleichsam nur das mechanische Instrument dazu ist, innere Stimmungen und Gemälde der Anschauungen hervorzubringen, - vielleicht auch - geistige Tänze. - Poësie = Gemütererregungskunst. «
Auch in Novalis' Poesie färbt die Eurythmie manche seiner Bilder. Denken wir nur an die Eingangsszene seines Märchens Eros und Fabel:
»Wie das Spiel anfing, sah man an allen Umstehenden Zeichen der lebhaftesten Teilnahme, und die sonderbarsten Mienen und Gebärden, gleichsam als hätte jeder ein unsichtbares Werkzeug in Händen, womit er eifrig arbeite. Zugleich liess sich eine sanfte, aber tief bewegende Musik in der Luft hören, die von den im Saale sich wunderlich durcheinander schlingenden Sternen und den übrigen sonderbaren Bewegungen zu entstehen schien.«
Meine Eurythmieschrift enthält den Umschlagtext: » Die gegenwärtige Krise der Eurythmie ist weder eine Fähigkeitskrise noch der Ausdruck einer allgemeinen Willensschwäche, sondern eine Bewusstseins-, und hieraus entspringend, eine Gemeinschaftskrise.« - Wobei in den 70-er Jahren meine Eurythmielehrerinnen in Dornach, die bereits zu Rudolf Steiners Lebzeit auf der Bühne standen, sich wiederholt über allerlei "Antriebs- oder Willensschwächen" beklagten, die sie bei der damals jüngeren Generation festgestellt hatten. - Dem widersprach, dass mir für mein eigenes Üben die Aussage Rudolf Steiners zum Ideal wurde: » Eurythmisieren ist zunächst auch, abgesehen von allem übrigen, ein Versuch, den Willen wiederum hineinzubringen in die ganze Menschheitsentwicklung.« (Im 3.Vortrag des Heileurythmiekurses)
Der scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn bedacht wird, dass Rudolf Steiner natürlich den freien Willen gemeint hat. Der unfreie Wille kann zu allerlei respektablen Ergebnissen wie etwa Sportmedaillen und den mit ihnen verbundenen Einnahmen, doch zu keiner echten Kunstpraxis führen. Es stellt sich die Frage, was die "Ur-Eurythmistinnen" damals über sich hat hinauswachsen lassen. Offensichtlich etwas, was nach dem Tod Rudolf und Marie Steiners allmählich verblasste. Und dass die meisten unter ihnen die geistigen Grundlagen während des rasch fortschreitenden Entstehungsprozesses der Eurythmie sich nur anfänglich haben zu eigen machen können (mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen wie etwa Annemarie Dubach).
» Wer zum wesenhaften Denken sich hinwendet, der findet in demselben sowohl Gefühl wie Willen, die letzteren auch in den Tiefen ihrer Wirklichkeit.« (Zusatz zum 8.Kapitel der Phil.d.Freiheit) - Ich stellte mir vor, dass alle sich eurythmisch Schulenden im Erleben des wesenhaften Denkens den Weg finden würden, wie sie die ihnen in der Krise abhanden gekommene Energie des Forschens und des spielerischen Erprobens zurückfinden könnten.
So erschien im Juni 1993, in Anknüpfung an Parrs Eurythmieschrift, in der Wochenchrift Das Goetheanum mein Essay Eurythmologie - die Erforschung eines Willensrhythmus, dem einige Leser grosses Verständnis entgegen brachten. Im Herbst 1993 erschien er, von Allan Stott übersetzt, zusätzlich in der damaligen Zeitschrift der Eurythmisten in England. Andere Fachkolleginnen wiesen das Wort Eurythmologie empört zurück. Es kam zu grotesken Aktionen der "Verdammung" in meinem damaligen Dornacher Lebensumfeld, die drei Jahrzehnte später zu schildern ganz unnütz wäre.
In den Eurythmieausbildungen wurde zu wenig auf die seelischen Beobachtungen des meditativ sich vertiefenden Denkens hingewiesen. Ob sich das inzwischen geändert hat, oder ob die Frage angesicht der Schliessung vieler Aubildungsstätten obsolet ist, weiss ich nicht. Auf jeden Fall würde ein Studium, das sich Erleben des wesenhaften Denkens zum Ziele setzt, auch zur Fähigkeit führen können, sich aus intuitiv dargelebtem Willen heraus den Leibesbewegungen einen sprachlichen Ausdruck vermitteln zu lernen. In den imaginativ beseelten, ichhaft geführten Eurythmiebewegungen können sich die zwei im alltäglichen Bewusstsein stets getrennt ausgeübten Tätigkeiten des Bewegens und des Beobachtens begegnen und durchdringen. Dieses Ziel ist nicht aufgrund eines vier- (auch nicht eines 7-jährigen) Ausbildungsganges zu erreichen, da es sich nicht um das Ergebnis einer Aubildung, sondern eher um eines der Selbstbildung, ja einer schöpferischen Einbildung handelt.
Kein Wunder liess im 21.Jhdt. das Interesse an Eurythmielehrgängen bei jungen Menschen nach. Auch an denjenigen, die das Ziel auf das "Praktische" legten (etwa Unternehmenseurythmie), wie auch den mehr auf esoterische Ziele orientierten (paneurythmisch-sophianische oder kultische Eurythmie). - Mich erreichten Ende des letzten Jahrhunderts Anfragen von Eurythmieschülern damals bedeutender Eurythmieschulen. Sie baten um die Erklärung der Aussagen meiner Schrift in einem praktischen Kurs. Dabei erfuhr ich, dass ihnen von Seiten der Schulleitung abgeraten worden war, sich mit Rudolf Steiners philosophischen Schriften zu befassen. Sogar die von Rudolf Steiner gehaltenen Eurythmiekurse blieben, als ich am Goetheanum die Ausbildung durchlief, von den Lehrerinnen unerwähnt. Ihr Studium gehörte nicht zur Ausbildung. Die Ausbildner fürchteten, dass die Schüler "zu kopfig" würden, die Schüler, dass ihre Lehrer die sich dabei stellenden Fragen nicht zu beantworten wüssten.
Gibt es überhaupt für den Eurythmieliebhaber einen sicheren Weg, eine tragfähige Methode - unabhängig, ob er als Bühnenkünstler, Therapeut oder Pädagoge tätig ist -, um in sich den freien künstlerischen Grundimpuls zu stärken und zu pflegen ? - Hören wir dazu noch einmal den Begründer der Eurythmie:
» Der Lebensleib kann nicht erkannt werden auf dem äusserlich anschaulichen Wege, der muss innerlich erlebt werden. Es muss, um ihn zu erkennen, eine Art künstlerische Tätigkeit entfaltet werden. Daher ist jene Stimmung, die die meisten gar nicht entdecken, in der "Philosophie der Freiheit", dass sie überall anschlägt an das künstlerische Niveau. Nur finden es die meisten Menschen deshalb nicht heraus, weil sie das Künstlerische im Trivialen, Natürlichen suchen und nicht in der freien Betätigung.« (R.St. in Stuttgart am 12. Oktober 1922)
Ich hoffe, mein Eurythmieangebot, das ich mir nach einem längeren Unterbruch wieder als Eurythmologische Übungen zu bezeichnen erlaube, damit verdeutlicht und möglichen Missverständnissen vorgebeugt zu haben. In zahlreichen Fragmenten, die Novalis als logologische überschrieb, suchte er dem innersten Grund, welcher Logik logisch macht, nachzuspüren und dem dabei seelisch Beobachteten gedanklich-sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Entsprechend ist Eurythmologie keine neue Eurythmie, wie mir vorgeworfen wurde, sondern versucht die neue Bewegungskunst, welche die Krise noch nicht ganz überstanden hat, als einen geisteswissenschaftlichen Impuls zu erforschen und kunstwissenschaftlich zu bearbeiten. Sie klärt u.a. darüber auf, was eine eurythmische Bewegung eurythmisch macht, um sie von gymnastischen, tänzerischen oder körperenergetischen Bewegungen wie Yoga oder Thai Chi unterscheiden zu können.
Alles weiter ins Konkrete Führende erfolgt in den beiden Zusammenkünften im Eurythmieraum des Rudolf-Steiner-Hauses. Ich bitte um Anmeldung für beide Treffen an ra.savoldelli@das-seminar.ch . Der Besuch nur einer Übstunde ist leider nicht möglich. Das Kursgeld von € 15 ist zu Beginn zu entrichten.
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