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AutorenbildPierre Tabouret

Inspirationsverwirrung



Ein guten Freund hat sich entfernt , allmählich , Schritt für Schritt und zuletzt durch einen Aufruf zum Mord . – Nach der Veröffentlichung seiner Überlegungen , wie sich gegen den Staatspräsidenten Russlands Wladimir Putin vorgehen liesse ( nämlich ihn zu töten ), hat bald Professor Doktor Jost Schieren seinen Text von der Website der Zeitschrift Info3 entfernt und daraufhin seine Leserinnen und Leser , die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft und seine Kollegen für den Fehlgriff um Entschuldigung gebeten . Doch bringt dies allerdings keine befriedigende Lösung des entstandenen Problems , der durch die entgegenkommende Haltung der verantwortlichen Gremien der Anthroposophischen Gesellschaft und der Waldorf Schulbewegung vertuscht und verdeckt wird .


Denn das einzige relevante und reale Probleme ist ganz einfach : wie kann ein gebildeter Mensch heute zum Gedanken kommen , einen anderen Mensch überhaupt zu töten , und diesen Gedanken ausführlich in seinem Bewusstsein entfalten , reflektieren und rechtfertigen . ( Dass es Millionen von Zeitgenossen gibt , die sich in derselben Weise verirren , liefert dafür keine Rechtfertigung. ) Dass Schierens Überlegungen überdies schriftlich niedergelegt und publiziert wurden , zeigt nur , dass der Autor in jenem Moment den Sinn der Freiheit und sein Schatten , das Böse , aus den Augen verloren hat .


Ein seelisch-geistiger Unfall , der höchstwahrscheinlich nicht der erste und nicht der letzte  sein wird . Das kann vorkommen . Ist man sich denn durchwegs darüber im Klaren , welche Inspirationskräfte wirksam sind , die sich durch einen aussprechen ? Offenbar nicht . Man erinnert sich , wie seinerzeit der Chefredaktor der Info3 unmissverständlich für den amerikanischen Überfall auf den Irak Stellung genommen hat , um nur ein Beispiel in Erinnerung zu rufen . ( Anscheinend herrscht in jener Redaktionsecke eine Faszination für kriegerische Gewalt .)


Die nachträgliche «Erklärung in eigener Sache von Jost Schieren» ( die ja gar keine «eigene Sache», sondern eine öffentliche Angelegenheit ist , weshalb man sie auch zitieren und kommentieren kann ) zeugt von der vorliegenden Verwirrung . Das Problem bleibt solange bestehen , als dass erstens die gedankliche Verwirrung nicht aufgedeckt und geklärt wird und zweitens die von der Verwirrung betroffene Person nicht einsieht , dass sie nicht mehr in der Lage ist , die Funktionen auszuüben , die ihr bislang anvertraut waren . In jeder modernen Gemeinschaft ist man heute darauf vorbereitet , dass nach solch einer erschütternden Prüfung der Rückzug erfolgt , weil man in Begleitung der inneren Verarbeitung des Vorgefallenen damit selbst sich neu zu schulen vermag . Davon war in den Entschuldigungszeilen von Jost Schieren und im Kommentar seiner "Arbeitsgeber" kein Wort zu lesen .


Daraus wird ersichtlich , dass die Frage nach dem ethischen Individualismus keine blosse anthroposophische Marotte und keine Privatsache ist , sondern nur eine real öffentliche sein kann , die nicht leichtfertig als inexistent betrachtet werden kann . ( In Frankreich ist ein «Aufruf zum Mord» ein Kriminaltatbestand und wird gerichtlich bestraft . Das Gesetz gilt nicht etwa nur für Extremisten und Terroristen , sondern für jeden Bürger . Wie verhält es sich damit in anderen Ländern ? )


Pierre Tabouret , FR - Huningue , Juni 2022


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