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Wer, wenn nicht ... Ich ?

Eine Kritik von Sven Böttchers Anleitungen in

Wer, wenn nicht (Bill) WIR ?




Der Freundeskreis des Seminars ist freilassend und an Meinungsverschiedenheit interessiert. So etwa, wenn ein Freund einen Hinweis auf eine neue Publikation veröffentlicht, die deutlich macht, wie sehr der Autor mit der gegenwärtigen sozial-politischen Entwicklung in vielen Staaten, nicht nur in Frankreich und Deutschland, sondern auch in Russland, Indien und China usw. unzufrieden ist. Im Gesamtzusammenhang treffen dabei zwei Weltanschauungsrichtungen aufeinander:


« ... Die eine wird nachzudenken haben, wie Begriffe und Vorstellungen auszubilden sind, damit sie der realen Wirklichkeit, der Geist- und Seelenwirklichkeit gewachsen sind. Die andern, die Nachfolger der heutigen Materialisten, werden den Impfstoff suchen, der den Körper «gesund» macht, das heißt, so macht, daß dieser Körper durch seine Konstitution nicht mehr von solch albernen Dingen redet wie von Seele und Geist, sondern «gesund» redet von den Kräften, die in Maschinen und Chemie leben, die im Weltennebel Planeten und Sonnen konstituieren. Das wird man durch körperliche Prozeduren herbeiführen. Den materialistischen Medizinern wird man es übergeben, die Seelen auszutreiben aus der Menschheit. - Ja, diejenigen, die glauben, daß man mit spielerischen Begriffen in die Zukunft sehen kann, die irren gar sehr. Mit ernsten, gründlichen, tiefen Begriffen muß man in die Zukunft sehen. Geisteswissenschaft ist nicht eine Spielerei, ist nicht bloß eine Theorie, sondern Geisteswissenschaft ist gegenüber der Entwicklung der Menschheit eine wirkliche Pflicht.“

(Rudolf Steiner in seinem Dornacher Vortrag vom 7. Okt.1917, GA 177, S.97)


Was ich über das Buch von Böttcher sagen muss: es ist nicht lesenswert. Eigentlich auch nicht der Rede wert ist – oder höchstens, um zu erfahren, wie die Bearbeitung oder gar Meisterung der globalen Krise mit Sicherheit nicht gelingen kann. Da das Büchlein inzwischen zum Beststeller geworden ist, muss ich, wenn ich mich so entschieden ausdrücke, meine Gründe ausführen.


Ich will weder den Autor noch seine Gleichgesinnten persönlich angreifen oder verletzen. Ich bringe nur zum Ausdruck, dass, wenn sie bei ihren angeführten Prämissen stehen bleiben, sich an der heutigen wie der kommenden Weltlage nichts wesentliches verändern wird. Einen "great social reset", von dem der Autor schreibt, eine solche Revolution wird seit über hundert Jahren angemahnt. Um in die Tiefe zu dringen, muss sie jedoch auf einer ganz anderen Ebene ansetzen, als die, welche Böttcher im Sinn hat.


Ich selbst bin Ende 1950 geboren. Im Herbst 1967, Winter 1968 wurde ich in der Stadt, in der ich lebte, zu einem der führenden Aktivisten und half in vielen Reden und Ansprachen, durch Flugblätter und Plakate dem Schüler- und Studenten-Streik zu seinen ersten grösseren Anläufen. Bereits seit März 1968 waren alle Mittelschulen, Gymnasien und die Hochschule durch die Streiks ausser Betrieb. Im April 1968 habe ich mich nach mehreren grossen Versammlungen und Demonstrationen aus der vordersten Front zurückgezogen und die, wenn auch inoffizielle, jedoch offensichtliche Führungsfunktion niedergelegt. Mir war damals klar geworden, dass wir die Welt nicht verändern können, wenn der Einzelne nicht bereit ist, sich selbst zu verändern.


Das "WIR", von dem Sven Böttcher schwärmt, gibt es nicht und hat es nie gegeben. Die Menschheit wird durch einzelne Menschen gebildet. Diese Individuen können sich mit anderen verbinden und, wenn sie wollen, Gemeinschaften bilden. Und das gemeinsame Bewusstsein, welches sich aus diesen menschlichen Verhältnissen ergibt, kann zeitlich, räumlich eventuell als ein "Wir" umrissen werden. Es kann sich überdies ergeben, dass einige Gemeinschaften sich zusammenschliessen, um bestimmte Lebensverhältnisse zu bewältigen. Doch die Hauptlektion der 68er-Bewegung ist: Ich bin kein Wir und Wir ist kein Ich. Wer das nicht begriffen hat und nicht annehmen will, lebt noch im 19. Jahrhundert.


Die zweite Lektion aus der 68er-Bewegung und ihren schon früher erprobten und anschliessend gescheiterten Kommunenversuche ist die folgende: einzelne Menschen können langfristig nur miteinander auskommen, wenn sie bei der Entwicklung einer Mensch- und Welt-Auffassung zusammen arbeiten. Ohne das, was man auch eine gemeinsame Weltanschauung nennen kann, hält eine Gemeinschaft weder die schönen noch die schwierigen Tage des Lebens aus. Denn wo und wie könnte man sich zusammenfinden, verbinden, begeistern, Projekte schmieden und umsetzen, wenn zuvor keine klare Vertrauensbasis durch den Austausch und das gegenseitige Verständnis der Beteiligten über die existentiellen Fragen des Daseins und den Sinn des Lebens gefunden wurde. Nicht gemeint ist die Übereinstimmung in einer allgemeingültig vorgestellten Weltanschauungslehre, nein, gemeint ist das gemeinsame Streben nach einer für die entsprechende Gemeinschaft gültigen Grundlage. Diese wird von Gemeinschaft zu Gemeinschaft wohl erhebliche Unterschiede aufweisen. Ein "Wir" entsteht nicht in Lethargie und Trägheit, sondern als Ergebnis eines Ringens nach gegenseitigem Verständnis.


In diesem Licht ist das Menschenverständnis, das der Autor zum Ausdruck bringt, unzulänglich und zum Teil schlicht falsch. –  Greifen wir vorsichtig einen Faden des Knäuels heraus und ziehen wir ein wenig daran, damit deutlicher wird, was daran hängen bleibt.

«Wir konstatieren, dass das, was wir «Ich» nennen, zu 80% aus Bakterien und Viren besteht. Wir konstatieren unser Selbst als geheimnisvollen System, das für uns immer rätselhaft bleiben wird.» - Das was damit angedeutet ist, ist kein Ichselbst-Erlebnis, höchstens ein Erwachen am eigenen Körper, das mir zeigt: dein "Ich"ist nicht in deinem Körper zu finden. Der sich an dieser Stelle (Seite 97) anschliessende Satz führt ins Zentrum der Problematik. «Wir konstatieren aber insbesondere, das # 3 , «Es diene den Menschen», auch und besonders für die Maschine gilt und immer gelten wird.» Nun was sagt # 3 (Seite 95)?


«All unser Handeln dient dem Menschen. Dies bedeutet : «Handle so, dass jede Wirkung deines Handelns mit dem Fortbestand wirklich menschlichen Lebens vereinbar ist.» Wirkliches menschliches Leben umfasst zwingend sowohl das Atmen als auch allerlei Unberechenbares wie die Empfindung von Emotionen, wie auch die eigene Sterblichkeit und das Wissen darum (siehe # 1). Wirklich menschliches Leben unterscheidet sich mithin fundamental vom wirklich nichtmenschlichen Leben wie dem des Steines, der Wolke oder der Maschine.» - Hier hat nun die schon in den beiden vorangegangenen Absätzen angekündigte kantische Moralpredigt ihren Auftritt.


In # 2, einer Halbseite zuvor (Seite 94), ist zu lesen: «Es gilt der erweiterte kategorische Imperativ. «Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde», im Volksmund : «Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem anderen zu» - und im Übrigen füge man hinzu : Füge auch anderen nichts zu, was du dir selbst gerne zufügst, was aber andere nicht mögen. Beim Handeln nach unserem inneren Gesetzeskompass folgen wir gründlicher Abwägung, nicht spontanen Gefühlen, wir berücksichtigen auch weitreichende Folgen, beziehen also durchaus die ganze Menschheit mit ein (und tun nicht so, als endete die Konsequenzen unseres Tuns am Gartenzaun). Wir sind der Wandel, den wir zu erleben wünschen, im Wissen: Handeln alle so wie ich, wird die Welt ein besserer Ort.»


Es ist vom Autor nirgends zu vernehmen, was für Kriterien dabei in Betracht zu ziehen sind, ausser der Befriedigung eines gewissen Egoismus, dass die Welt für mich besser werden soll, wobei seinen Mitmenschen mit naiver Hoffnung unterstellt wird, "wir" wären uns einig. (Vergleiche den allzu gewöhnlichen Fehlgriff: diese Massnahmen haben mir echt gut getan, so wird diese Diät oder dieses Verfahren sicher auch für andere gut sein, machen wir doch daraus eine allgemein gültige therapeutische Methode. – Verbunden mit einem guten Marketing wird es sicher Erfolg haben. Ob es Menschen wirklich helfen wird, bleibe vorerst dahin gestellt.) – Weiss der Autor, dass es auch freie Handlungen geben kann, die von bereits erprobter Gesetzmässigkeit und zweckhafter Vorstellung frei sind, also frei von Erwartungen und von Absichten ausgeführt werden?


Treten wir noch ein Schritt zurück, um das Fundament dieses uralten, wackligen Gebäudes in den Blick zu nehmen. Nachdem der Autor seine Auffassung in folgenden Sätzen (Seite 92) angekündigt hat: «Die Veränderung, die Team Mensch anstrebt, ist grundlegend, keine Reform oder Korrektur im Kleinen, denn im Mittelpunkt seiner Weltsicht stehen die allgegenwärtigen Forderungen : Es sei gut, und es diene dem Menschen. - Präziser formuliert, ist das Ausüben jedweder Handlung kategorische Bedingung, dass diese Handlung dem Menschen nützt. Leistet eine Handlung das nicht, hat sie zu unterbleiben» und uns aufgefordert hat mit zu denken. «Betrachten wir also Ziele, Anliegen und Überzeugungen des Team Mensch  etwas ausführlicher und bedienen uns dabei der vorliegenden Grundsatzerklärung der Gruppe, verfasst und unterzeichnet von – niemand, natürlich. Wie es sich für Verschwörer gehört» bekommen wir den # 1 (auf Seite 93) zu lesen:


«# 1: Memento mori. Wir leben und handeln im Bewusstsein, dass wir sterblich sind. Wir wollen alle nicht sterben . [ Also auch ich, Leserin oder Leser, wirklich? Anm.] Wir müssen aber. Das wollen wir aber gar nicht wissen. Wir müssen aber. Wir wissen nicht, wann und wie wir sterben müssen. Wir haben darauf keinerlei Einfluss. Wir können achtsam sein und Gefahrensituationen meiden, aber auch der beste Biokost schützt nicht vor Meteoriten. Wir können andere vor uns selbst schützen (so Gott will) und uns von ihnen (so Gott will). Aber wir bleiben jederzeit sterblich [so Gott will, Anm.]. Darum zu wissen unterscheidet uns von der Maschine. Und das ist wesentlich. Denn die Aussagen «Ich will nicht sterben» und «Ich will leben» sind für die Maschine im Ergebnis gleichbedeutend: In beiden Fällen ist der Wunsch nach Weiterexistenz geäussert, während Nicht-Existenz dringend zu vermeiden ist. Die Maschine …» - Hier liegt nun wirklich der Wurm drin. Denn wenn die vorigen Bemerkungen zur begrenzten und unvollständigen Verstandesfähigkeit der Maschine eine Pointe gegen die Transhumanisten, die selbst kein lebendiges Konzept des Lebens entwickeln, enthalten sollen, reicht diese Argumentation nicht aus, um Leserinnen und Leser sowie Nicht-Leserinnen und Nicht-Leser seiner Schrift in einem grossen "Wir" zu vereinigen.


Die Annahme, alle Menschen würden, weil sie halt Menschen sind, den Tod fürchten und nicht sterben wollen, ist eine harte Zumutung, eine Unterstellung und zeugt zudem von einer gravierenden Unkenntnis über das Wesen des Menschen. Anscheinend hat der Autor noch nichts von der Tatsache der Reinkarnation des individuellen geistigen Wesenskerns des Menschen vernommen. Wenn ich mich als ein Wesen, das sich individuell, aktiv, gedanklich, geistig betätigend und sich in wiederholten Erdenleben verkörpernd und weiterentwickelnd verstehen und erleben kann, selbst wenn dies nur als Hypothese angenommen wird, sieht doch das eine Leben wie auch der Tod ganz anders aus, als was der Autor als allgemeingültig missversteht.


Nun, kehren wir um und gehen den Weg wieder zurück. Ein Mensch, der sich an seiner Inkarnation freut, auf sein jetziges Erdenleben und auf die Möglichkeit, sich kreativ darzuleben und damit die Kultur zu bereichern und dabei Neues zu erfahren, wird sich bestimmt nicht unter irgend einen verpflichtend zwingenden kategorischen Imperativ beugen. Es gibt keine Pflicht, ob niedere oder höhere, die zur Freiheit führt. Die Freiheit, von dem der Autor spricht, ist nicht die Freiheit, zu welcher Friedrich Schiller führen wollte. Es ist anglo-amerikanische "Freedom": Mit meinem Besitz, auf meinem Grundstück, in meinem Haus, mit meinem Auto oder Motorrad darf ich alles machen, was ich will und was mir einfällt. Hier darf keiner mein Revier betreten und mich stören, ansonsten werde ich mich zu verteidigen wissen. Das ist triviale, egoistische Konsumentenhaltung. Wer will so sein? Keiner und vor allem kein "Wir". Anscheinend gibt es, dem Autor zu Folge, diesbezüglich keine Divergenz zwischen den Fans, ob Old-Team, New-Bill-Team, oder New-Mensch-Team, alle Menschen sind gierige, egoistische, ängstliche Wesen, von einer Leibmaschine durch ihr Aktionsrevier getragen.


An dieser Stelle darf erinnert werden, dass wir auf altem Pflaster gehen. Am Ende des 19.Jahrhunderts bildete sich in Amerika eine Gesellschaft für ethische Kultur, um das Gute zu preisen und die Menschen zu überzeugen, dass es erreichbar sei, sich in aufrichtiger, gesitteter Art zu verhalten. Man bräuchte eigentlich nur ein wenig «bon sens», um einzusehen, dass mit einigen klaren Vorsätzen und eindeutigen Gesetzen die ganze Menschheit vor jedem Übel gerettet werden kann. Im Jahre 1892 verbreitete sich die Ankündigung dieser Gesellschaft auch in Deutschland. Rudolf Steiner war zu dieser Zeit dabei, seine Philosophie der Freiheit fertig zu schreiben und als Publizist in verschiedenen Zeitschriften tätig. Er schrieb dazu vier kürzere Aufsätze, aus welchen ich die folgenden Abschnitte zitiere:


«Es geht so nicht mehr weiter, wie wir es bis jetzt getrieben haben. Der tief in den Staub getretenen Sittlichkeit muss wieder aufgeholfen werden! So dachte eine Anzahl wohlmeinender Menschen, und sie begründeten einen Verein für ethische Kultur. Soeben ging von Berlin aus die Nachricht durch die Zeitungen, dass diese neue Anstalt zum Heile der Menschheit ins Leben getreten ist, und die Aufforderung sich anzuschliessen. Und wir finden unter den Begründern manchen Namen, der einer von uns verehrten Persönlichkeit angehört. Der Zweck des Vereins soll sein, gegenüber allen religiösen und sittlichen Besonderheiten der einzelnen Religionen und Kulturen das Allgemein-Menschliche hervorzukehren und dies zum Träger seiner Weltanschauung und Lebensführung zu machen. Dies soll durch eine literarische (in Vorträgen, Diskussionen und Schriftenherausgabe bestehende) und eine praktische (Wohltätigkeitsakte und Dringen auf Verbesserung der Lage der notleidenden Bevölkerung) Vereinstätigkeit angestrebt werden.»


«Der Grundirrtum, der hier zugrunde liegt, ist der Glaube an eine allgemein-menschliche Sittlichkeit. So wenig der „Mensch im allgemeinen“ möglich, sondern nur eine begriffliche Fiktion ist, so wenig kann von einer Ethik im allgemeinen gesprochen werden. Jedes Volk, jedes Zeitalter, ja im Grunde jedes Individuum hat seine eigene Sittlichkeit. Der Denker kann dann das Gemeinsame aller dieser sittlichen Anschauungen aufsuchen, er kann nach den treibenden Kräften forschen, die in allen gleich wirksam sind. Aber das dadurch erlangte Ergebnis hat nur einen theoretischen Wert. Es ist für die Erkenntnis der ethischen Natur des Menschen, seiner sittlichen Wesenheit, unendlich wichtig; zum Träger der Lebensführung kann es nie und nimmer gemacht werden. Und es kann nichts Befriedigenderes geben, als dass dies nicht möglich ist. An die Stelle des individuellen Auslebens der Volks- und Menschennaturen, der Zeitalter und Individuen träte sonst schablonenhaftes Handeln sittlicher Puppen, die an den Fäden der allgemein-menschlichen Sittenlehre immer aufgezogen würden.»


«Wir haben ganz andere Dinge zu tun, als darüber nachzudenken, wie wir uns verhalten sollen. Unser ganzes Leben ist aus dem Grunde in einer Übergangsperiode, weil unsere alten Anschauungen dem modernen Bewusstsein nicht mehr genügen, und weil der Materialismus, den uns die Naturwissenschaften an seine Stelle setzen wollen, nur eine Ansicht für Flachköpfe ist.»


«… Es muss, um ein oft gebrauchtes Wort zu wiederholen, jeder nach seiner Fasson selig werden können.»


«Deshalb kann kein modern Denkender sich dem in Rede stehenden Verein anschliessen oder dessen Tendenzen billigen. Ich zweifle nicht, dass das Wort „Toleranz“, das die Gesellschaft auf ihre Fahne geschrieben hat, seine talmigoldartige Wirkung auf breite Gesellschaftsschichten ausüben wird. Man wird damit gewiss ebenso viel ausrichten, wie mit den nicht minder missbrauchten andern: Liberalismus und Humanität. Goethe sagte, er wolle von liberalen Ideen nichts wissen, nur Gesinnungen und Empfindungen könnten liberal sein. Ein eingeschworener Liberaler war, als ich ihm einmal die Anschauung des grossen Dichters zitierte, bald mit seinem Urteile fertig: sie sei eben eine der mancherlei Schwachheiten, die Goethe an sich gehabt habe. Mir kommt sie aber vor wie eine der vielen Ansichten, die Goethe mit allen auf geistigem Gebiete energisch sich betätigenden Menschen gemein hat: das rücksichtslose Eintreten für das als wahr Erkannte und Durchschaute, das sich zugleich verbindet mit der höchsten Achtung der fremden Individualität. Nur wer selbst etwas ist, kann auch den andern erkennen, der gleichfalls etwas bedeutet. Der Durchschnittsmensch, der alles und deshalb nichts sein will, verlangt ebensolche Nichtse neben seinem eigenen. Wer selbst nach der Schablone lebt, möchte auch die andern danach gestalten. Deshalb haben alle Menschen, die etwas zu sagen haben, auch Interesse für die andern. Die aber, die eigentlich gar nichts zu sagen haben, die sprechen von Toleranz und Liberalismus. Sie meinen damit aber nichts weiter, als dass ein allgemeines Heim für alles Unbedeutende und Flache geschaffen werden soll. Sie sollen dabei nur nicht auf die rechnen, die Aufgaben in der Welt haben. Für diese ist es verletzend, wenn man ihnen zumutet, sich unter das Joch irgendeiner Allgemeinheit zu beugen; sei es das einer allgemeinen Kunstnorm oder das einer allgemeinen Sittlichkeit. Sie wollen frei sein, freie Bewegung ihrer Individualität haben. In der Ablehnung jeglicher Norm besteht geradezu der Hauptgrundzug des modernen Bewusstseins. Kants Grundsatz: Lebe so, dass die Maxime deines Handelns allgemeingeltend werden kann, ist abgetan. An seine Stelle muss der treten: Lebe so, wie es deinem inneren Wesen am besten entspricht; lebe dich ganz, restlos aus. Gerade dann, wenn ein jeder der Gesamtheit das gibt, was ihr kein anderer, sondern nur er geben kann, dann leistet er das meiste für sie. Kants Grundsatz aber fordert die Leistung dessen, was alle gleichmässig können. Wer ein rechter Mensch ist, den interessiert das jedoch nicht. Die Gesellschaft für ethische Kultur versteht unsere Zeit schlecht. Das beweist ihr Programm.»


Meine Leserinnen und Leser werden ohne weiteres verstehen, dass man an Stelle des genannten Vereins, ohne sonst etwas an diesen Zeilen zu ändern, das "Team Mensch", das uns Sven Böttcher schmackhaft machen will, einsetzen kann. Er wird vielleicht argumentieren wollen: Die Zeiten haben sich doch seitdem gründlich verändert. Na ja, damals stand der erste Weltkrieg vor der Tür und einige heftige Epidemien, was ist heute anders? Das Suchtverhalten der Menschen hat sich vom Alkohol auf andere Substanzen ausgedehnt. Und die Digitalisierung beschleunigt viele Vorgänge. Diktatoren waren auch damals schon am Zug. Das trifft aber nicht den Punkt, auf den es ankommt. Die Selbstauffassung des Menschen steht zur Debatte, nicht mehr und nicht weniger.


Die im Büchlein eingeführte Zusammenstellung von Ratschlägen entspringt einer rein materialistischen Gesinnung. Alle empfohlenen Massnahmen sind doch nur das, was ein grosser Teil der Bevölkerung ohnehin schon längst macht. Viele haben ihre gesicherten Ersparnissen, die Vorräte im Keller, die inneren Gewissensabsicherungen und die äusserlich bezahlten Versicherungen, die sozialen Verbindungen für diesen und jenen Zweck, ihre Einkaufsgewohnheiten, die beste Qualität zum geringsten Preis. Nichts daran ist neu, denn es gehört zum herrschenden System. Denn was ist das Hauptmotiv, wenn nicht die Angst, etwas Eigenes zu verlieren. Man fragt sich, ob der Autor eigentlich, oder vielleicht doch nicht, oder doch, wer weiss, vom "Team Bill" beauftragt wurde, eine gegnerische Kampfschrift zu schreiben, die nichts Gefährliches enthält. Wirklich neu wäre etwas anderes .


Die danach entwickelten Szenarien, ob "worst case" oder die milde Katastrophe, unterscheiden sich nicht wirklich und beschreiben beide dieselbe doppelte Illusion: dass es einen globalen wirtschaftlichen Kollaps geben wird, die mit einer starken Beängstigung verbunden wird; und dass man sich durch entsprechende Massnahmen davor schützen könne, ein Plädoyer für einen autarkischen Selbstschutz. Der Autor zieht seine Leserinnen und Lesern auf eine schiefene Ebene, die bald in einen Sturz in den Abgrund enden soll. Zwar gibt es viele Gründe, sich über die heutige Entwicklung Sorgen zu machen; der Autor gibt aber keine Gründe an, weswegen irgendwer seiner Darstellung der Chaos-Entstehung Glauben schenken soll. Vielmehr, und das weiss jeder wachsame Zeitgenosse, zeichnen sich viele Initiativen von einzelnen Personen und von Gruppen ab, die sich weiter entwickeln und gedeihen, ohne sich vom Wirbel der geschilderten hypothetischen Vorgänge abhängig zu machen.


Der springende Punkt ist: ab wann und wie beginne ich mich von den Vorstellungszwängen, die mir durch die Medien, inklusiv und eindringlich durch Sven Böttcher, geliefert werden, Abstand zu nehmen um mir über die Sachlage ein eigenes Urteil zu verschaffen.


Basel , 29. April 2021


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