Es wäre sinnlos und unverantwortlich, die verschiedenen Bewegungen und Ereignisse, welche die Welt und die menschliche Gesellschaft heftig erschüttern und in den letzten Monaten an Zahl zugenommen haben, nicht aufmerksam zu beobachten. Manche Phänomene, von denen man glaubt, dass man sie erkennen und verstehen würde, sind nicht durch unmittelbare Wahrnehmungen oder offenkundige Fakten gedeckt, sondern beruhen auf vagen Vorstellungen, die von dem einen oder anderen auf alle möglichen Arten verbreitet werden. Einige Aussagen bleiben anonym oder sind nichts anderes als Behauptungen von Untergebenen, die sagen, was ihnen befohlen wurde. Andere berühmen sich einer unantastbaren Autorität, die sie aufgrund einer politischen Funktion inne haben, oder verkünden ihre Überzeugungen und Verfügungen als Ergebnisse wissenschaftlicher Tatbestände. Das Problem besteht zunächst einmal darin, dass wir Zeuge einer gigantischen Verwirrung sind, in der sich Aussagen und kolportiere Fakten der einen und anderen widersprechen und sich ständig gegenseitig konterkarieren - ein Symptom eines völligen Mangels an freier Urteils- und Initiativkraft, da dort, wo Freiheit herrscht, im Gegenteil die Intuitionen in Übereinstimmung miteinander stehen und sich in ihrer Vielfalt ergänzen und harmonisieren. Sowohl was das Denken als auch was das Handeln betrifft, ist es fast unmöglich geworden, eine Kohärenz der Ansichten und Absichten zu erkennen.
Wie sind wir dahin gekommen ? Es liegt mir fern, zu glauben, dass irgendjemand, mich selbst mit kritischem Blick eingeschlossen, in der Lage sei, eine vollständige Antwort auf die aufgeworfene Frage zu geben, um darauf gestützt Lösungen vorzuschlagen, umso mehr als das, was ich als eine gigantische Verwirrung bezeichne, je nach Region und Land, je nach Kulturkreis und herrschendem Regime, je nach historischen Erwägungen und hoffungsvollen Erwartungen, welche einzelne Menschen und ganze Bevölkerungen beherrschen, ganz unterschiedliche Gesichter annimmt. Gleichwohl gibt es, obwohl nicht an der Oberfläche, so doch hinter dem äußeren Schein gemeinsame Nenner; wenn wir sie in Betracht ziehen, entdecken wir leicht Ereignisse und Verhältnisse, die wie so viele der sie bekräftigenden Symptome uns nicht gleichgültig lassen können, über die man aber dennoch nur schwer sprechen kann, weil sie das allgemeine Bewusstsein verstören, das ohnehin schon genug Probleme hat. Ich werde daher nur ein Motiv daraus in Betracht ziehen. Es bezeichnet die Ursache und die Herstellung von Wahrhaftigkeit.
Eine absolute Wahrheit gibt es nicht. Dies haben unter anderem Goethe und Rudolf Steiner klar erkannt und zum Ausdruck gebracht. Alle Wahrheit wird vom Menschen dadurch gedanklich konstruiert, als er die Welt begreift, sich selbst erfasst und die Beziehung zwischen beidem klärt. Die Kriterien der Wahrhaftigkeit werden daher von dem Menschenbild und der Weltanschauung abhängen, welche die Äußerungen umrahmen. Somit wird es sich darum handeln, die Kraft und den Weg zu finden, die es Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen und Überzeugungen ermöglichen, sich füreinander zu interessieren und zu akzeptieren, um dadurch erkennen zu lernen, was ihnen in ihrer Vielfalt fremd erscheint.
" Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß' ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige." Rudolf Steiner ergänzt Goethes Satz wie folgt : " Die Wahrheit ist nichts an sich. Sie entwickelt sich im Menschen, wenn er die Welt auf seine Sinne und seinen Verstand einwirken lässt. Nach seiner Organisation hat jeder seine eigene Wahrheit, die nur er in seinen intimen Zügen verstehen kann. Wer eine allgemein gültige Wahrheit fordert, der versteht sich selbst nicht ." 1)
Die Frage nach den Kriterien der Wahrheit, an die man sich von der Beobachtung des allen Menschen gemeinsamen Erkenntnisprozesses her annähert, stellt sich in einer sowohl überraschend einfachen als auch erschreckend anspruchsvollen Weise dar. – Wer die Strukturen und Worte der Grundstein-Mantren Rudolf Steiners ins Bewusstsein hebt, wird sich vergegenwärtigen, dass jene Frage in einem in der Meditation dreimal erfolgenden Aufruf gipfelt.
Um zu beobachten, verwende ich allgemeine Begriffe, die ich den Wahrnehmungsfeldern, auf die ich meine Aufmerksamkeit richte, gegenüber stelle. Einige dieser ideellen Angebot werden von den Wahrnehmungen aufgenommen, andere werden abgelehnt; nicht ich, sondern die Beschaffenheit der Wahrnehmungen selbst fixiert die ihnen adäquaten Begriffe in aufeinanderfolgenden Stufen, bis sie sich zu eindeutigen Vorstellungen bilden. Dies gilt für alle Wahrnehmungsurteile (Beziehungen zwischen Wahrnehmungen und Begriffen) : Die Flut steigt oder sinkt, in beiden Fällen kann es starke Wellen geben, doch hängen diese nicht von der Flut ab, sondern zum Beispiel von der Beschaffenheit der Küste und des Meeresbodens oder von der Stärke und Richtung des Windes. Dies gilt auch für alle Begriffsurteile ( Beziehungen zwischen zwei oder mehreren Begriffen) : Die Struktur einer sprachlichen Äußerung wird sich entweder als Aussage- oder als Fragesatz zeigen. Abgesehen von dieser Alternative gibt es keine anderen Möglichkeiten. Andere Satz- und Äußerungsformen sind nur Variationen oder besondere Kombinationen jener beiden Arten von Aussagen, die zeigen, dass ein mehr oder weniger komplexer Zusammenhang berücksichtigt wurde. Die beiden Begriffe der Behauptung und der Fragestellung befinden sich in einem irreduziblen Verhältnis des Antagonismus, was der polaren Struktur zwischen der Zusammenhangsbildung durch Denk-Akte und der Zurückdrängung der Zusammenhangsbildung im Zustand des beobachtend in sich zurückgestauten Denkens entspricht : Denken und Beobachtung als polar komplementäre Erfahrungen finden in dem Aussage- und Fragesatz einen strukturellen sprachlichen Ausdruck.
Diese beiden von jedermann beobachtbaren Beispiele, die Bewegungen von Flut und Ebbe, sowie die polaren Satzstrukturen, lassen uns unter unzähligen anderen möglichen Beispielen verstehen, dass das Hauptkriterium der Wahrhaftigkeit, wenn man nicht von a priori-Vorstellungen, Glaubenssätzen und dogmatischen Feststellungen ausgehen will, in jener Akzeptanz der Begriffe durch die Wahrnehmungen und jener Übereinstimmung der Begriffe untereinander liegt. Der Empfindungsgehalt der wahrgenommenen Welt sagt mir, ob die Gedanken, die ich an sie anlege, für die Bildung wahrhaftiger Vorstellungen richtig sind. Und die Geisteswelt der Begriffe sagt mir, ob ich ihre lebendig handelnde, universelle Ordnung respektiere, wenn ich aus Überlegungen Urteile und Schlussfolgerungen ziehe. – Übrigens, lassen Sie mich daran erinnern, dass dies auf eine der drei Bedingungen verweist, die Rudolf Steiner denjenigen gestellt hat, die sich um die Aufnahme in die Freie Hochschule am Goetheanum beworben haben : Wollen Sie im Einklang mit der spirituellen Ausrichtung des Goetheanum handeln ? Dabei ging es natürlich nicht um eine umständliche Übereinstimmung zwischen Gleichgesinnten, sondern um die intuitive Übereinstimmung, die jeder mit der spirituellen Weltordnung und der spirituellen Ausrichtung der anthroposophischen Bewegung in Freiheit zu suchen hat.
Was wir jetzt unter vielen Mimiken und Masken erleben, ist einerseits das verhängnisvolle persönliche Aufgeben und sind andererseits die sozial verheerenden Auswirkungen von Verboten, die Wahrhaftigkeit der Äußerungen und der Maßnahmen selbst in Erfahrung zu bringen: ich denke hier nicht nur an die vielseitigen Verdikte der sogenannten Virusepidemie, sondern auch an die zahlreichen Rechtsverletzungen (in China und Asien allerseits, in der arabischen und islamischen Welt, in ganz Afrika, in Nord-, Mittel- und Südamerika, eine Liste wäre schier endlos und würde auch Frankreich und alle europäischen Ländern nicht verschonen) , an die täglich weitergehende Zerstörung der Ökosysteme auf allen Kontinenten, an die Gewalt, welche Kindern, Frauen, Migranten und allen Minderheiten angetan wird, – und besteht überhaupt die Menschheit aus etwas anderem als multiplen Minderheiten ? Ist nicht vielmehr die Idee der Mehrheit eine Perversion der Realität, ein getarnter Avatar für das "Gesetz des Stärkeren" ?
Zuweilen und leider sehr oft haben wir den Eindruck, mit einer völligen Denkverweigerung konfrontiert zu sein. Verzichtet die Menschheit darauf, die Kraft der spirituellen Aktivität des Einzelnen aufzunehmen ? Eine einfache Art, meine bisherigen Ausführungen auf den Prüfstand zu stellen, besteht darin, sich am Ende des Tages zu fragen : Habe ich heute wirklich eine neue Vorstellung gebildet ? Einen neuen Begriff mir erarbeitet, den ich zuvor noch nicht erfasst hatte, und der real individualisiert als neue Vorstellung meine Erfahrung bereichert und den Schatz des Wirklichen, der mein individuelles Wesen ausmacht, erweitert ? Statt einer Vorstellung könnte es genauso gut eine Frage sein, eine echte Frage, auf die ich die Antwort nicht kenne, die mir aber wichtig ist und die ein gründliches Nachdenken erfordert.
" Wenn wir einen individuellen Geist verstehen wollen, müssen wir zwei Dinge über ihn wissen: erstens, wie viel Ewigkeit ihm offenbart worden ist, und zweitens, wie viele Schätze der Vergangenheit in ihm liegen ." 2)
Diese Aussage Rudolf Steiners in dem Kapitel Wiederverkörperung des Geistes und Schicksal in seiner Theosophie impliziert, dass sowohl der in der Vergangenheit gewonnene Teil wie der aus der Ewigkeit stammende Anteil nur Früchte aus der persönlichen Ernte sein können, die der Denktätigkeit des Ichs entstammt. Es stellen sich die Fragen, wie an die Erfahrung der Dauer, die sich für die Ewigkeit öffnet, heranzukommen sei und wie wir uns Erfahrungen erarbeiten können, welche die geistige Persönlichkeit weitertragen werden ? Die oben erwähnte Unterscheidung hat uns die notwendigen Hinweise zur Beantwortung diese Fragen geliefert.
Die Entwicklung neuer Vorstellungen auf der Grundlage persönlicher Beobachtung führt zu zwei Ergebnissen. Einerseits wird meine Sicht auf die Welt und auf mein eigenes Wesen nach und nach durch die vollbewusste Ausgestaltung von Vorstellungen und Urteilen bereichert. Sie verleihen den Erinnerungen die innere Substanz, welche nicht nur die biographische Vergangenheit von Einzelpersonen, sondern auch die geteilte geschichtliche Vergangenheit von Gemeinschaften konstituieren. Andererseits zeigen mir die sehr unterschiedlichen Vorstellungen im Vergleich, dass ihnen nicht die Wahrnehmungen, durch die sie sich unterscheiden, gemeinsam sind, sondern ihre allgemeinen Ideen, denen sich jede von ihnen auf unterschiedliche Weise angepasst hat, ohne dadurch ihre eigene Spezifität zu verlieren. So gibt es Wellen, die sich auf der Oberfläche eines Wassers bewegen, welches an Ort und Stelle bleibt, und Wellen, die auf der Oberfläche eines Wassers, das sich bewegt, an Ort und Stelle bleiben. Die einen bewegen sich z.B. unter der Wirkung des Windes, die anderen bleiben hinter einem festen Hindernis zurück, das der Strömung des fließenden Wassers widersteht. Allen gemeinsam ist der Begriff der Welle, die man sich als eine Flächengestalt vorstellen kann, die durch die aufeinander einwirkenden Elemente von Luft und Wasser entsteht und verändert wird. Eine allgemeine Idee kann keine Erinnerungen hervorrufen, denn um im Bewusstsein anwesend zu sein, muss sie jedes Mal neu gedacht werden. Erinnerungen sind hingegen persönliche psychische Inhalte, gebunde Vorstellungen, die uns Vergangenes wieder näher heranbringen. Allgemeine Ideen sind flüchtige Einblicke in die Ewigkeit, sie bezeugen unseren Anteil an der Ewigkeit, die durch sie in unserem Bewusstsein lebt, während wir sie anschauend durchdenken. Erinnerungen werden manchmal dadurch ins Gedächtnis gerufen, indem sie sich uns durch assoziative Bezüge zu gegenwärtigen Vorstellungen oder im Zusammenhang mit bestimmten Emotionen aufdrängen; dies ist bei universellen Begriffen nie der Fall, die, obwohl prinzipiell jederzeit zugänglich, sich nie aufdrängen und uns immer die Freiheit lassen, sie zu denken oder nicht. Vorstellungen bezeugen die Vergangenheit, die in uns lebt, die Universalien, die wir aktivieren, öffnen unser Gewissen für das universelle Leben des Geistes, sie bezeugen auch den wesentlichen Aspekt der wirkenden Ewigkeit, den wir dem Zeitgeschehen einprägen, um ihn im selbständigen Denken als unsere Gewissensstimme leben zu lassen.
Es ist unausweichlich, sowohl persönliche Erinnerungen wie auch Darstellungen zu verwenden, die mir von anderen mitgeteilt wurden. Ebenso zwingend ist, ihre Relevanz und ihren Wahrheitsgehalt im Kontext, in dem sie verwendet werden, zu überprüfen. Dabei ist der womöglich erschlossene Ursprung der verwendeten Vorstellungen zu berücksichtigen, da ich sonst Gefahr laufe, die mit den mitgeteilten Vorstellungen und Visionen verbundenen Erfahrungen, für die ich keine Verantwortung übernehmen kann, blind und ohne jede Beziehung zu mir selbst zu übernehmen. Schließlich sind nur diejenigen Vorstellungen und Begriffe in meinem Bewusstsein wirklichkeitsgemäß, welche die innere Stabilität gewährleisten, nach der jeder Mensch strebt, diejenigen, die ich selbst dem kognitiven Test ihrer Wahrhaftigkeit unterzogen habe. – In einer Epoche, die unter dem Einfluss von Praktiken lebt, die sich „ der Realität nicht überzeugend und wahrheitsgetreu nähern, sondern eine glaubwürdige Fiktion schaffen “ 3) wollen, die oft von großzügigen, jedoch irreführenden Versprechungen getragen sind, wird die Menschheit die Richtung ihrer Entwicklung in dem Maße ändern, als die Menschen, Einzelnen und Gemeinschaften, den Mut finden, die grundlegende menschliche Fähigkeit des individuellen Denkens in freier Übereinstimmung mit der universellen Ordnung des geistigen Lebens in der seelischen und alltäglichen Praxis umzusetzen. Denn sie werden darauf gestützt die Möglichkeit zum freien Handeln finden.
1) Goethe Sprüche in Prosa Einleitung und Anmerkungen von Rudolf Steiner , Stuttgart 1967 VFG Spruch 1 Seite 19
2) Rudolf Steiner Theosophie Dornach 1922 Ausgabe letzter Hand Absatz 6 im Kapitel Wiederverkörperung des Geistes und Schicksal Seite 52
3) Marc Dugain L’emprise Paris Folio 2014 «Il ne s’agissait pas d’aborder le réel de façon convaincante mais de créer une fiction crédible.» p.48
Oléron , August 2020
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